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Behandlungsfehler

Wie Heilberufler zu zweiten Opfern werden

Behandlungsfehler sind nicht nur für die betroffenen Patienten dramatisch. Oft ist auch das medizinische Personal von den Ereignissen traumatisiert. Das sogenannte Second-Victim-Syndrome kennen auch Pharmazeuten. Inzwischen gibt es Handlungsempfehlungen und erste Selbsthilfegruppen.
Jennifer Evans
15.04.2024  07:00 Uhr

Wenn es um Behandlungsfehler geht, dann steht meist der Patient als Opfer im Fokus. Doch so ein Vorfall ist auch eine psychische Belastung für die behandelnden Heilberufler. Ihr emotionales Leiden steht jedoch oft im Hintergrund der Geschehnisse. Second-Victim-Syndrome (SVS) nennt sich die traumatische Erfahrung, die medizinisches Fachpersonal rund um den Globus kennt.

Geprägt hat den Begriff Albert Wu, Professor an der Johns-Hopkins-Universität Baltimore. Sein Forschungsschwerpunkt sind die Auswirkungen von Sicherheitsproblemen auf Patienten und medizinisches Personal. Weil sich die Betroffenen als die Verursacher eines Fehlers sehen, finden sie sich häufig in einem Teufelskreis aus Schuldgefühlen und Versagensängsten wieder.

Zwar verarbeiten manche Angehörige von Gesundheitsberufen ihre Erlebnisse besser als andere, einige wachsen sogar an der Situation, wie der Hausärzteverband Baden-Württemberg einmal aufzeigte. Doch bis zu zwei Drittel aller Mediziner hätten mit den Nachwirkungen der dramatischen Ereignisse zu kämpfen, hieß es. Dazu zählen Schlafstörungen, Schuldgefühle oder Depressionen. Auch von Medikamenten- oder Alkoholkonsum berichtete der Verband. Viele hätten außerdem mit Flashbacks sowie dem Vertrauensverlust in die eigenen Fähigkeiten zu kämpfen. Demnach können solche posttraumatischen Belastungsstörungen künftige Behandlungen beeinträchtigen. Und mehr noch: Sie können zur Berufsaufgabe oder gar zum Suizid führen.

Selbsthilfegruppe für Apotheker gestartet

Das Gefühl von Schuld, Wut und Angst infolge einer nicht optimal gelaufenen Patientenversorgung kennen auch Apothekerinnen und Apotheker. Aber die SVS-Unterstützungsprogramme etwa bei Medikationsfehlern sind noch rar, wie die American Pharmacists Association (APhA) berichtet. Eine erste Selbsthilfegruppe, in der Pharmazeutinnen und Pharmazeuten in einem geschützten Raum über ihre Erlebnisse sprechen können, hat sich erst im März dieses Jahres unter dem Titel »You are Not Alone: Pharmacy Well-being Support« formiert. Im Anschluss hat die APhA von Experten geleitete Online-Sessions für Apotheker, Pharmaziestudenten und Apothekentechniker einrichtet, die einmal im Monat stattfinden.

Um mit solchen Vorfällen klarzukommen, können grundsätzlich kurze Job-Auszeiten helfen. Positiv wirken sich zudem regelmäßige Gespräche mit Kollegen aus, bei denen Betroffene ihre Emotionen zulassen dürfen, und die gleichzeitig vor Isolation schützen. Wichtig dabei ist, dass keine Schuldzuweisungen stattfinden. Für die Genesung ist ebenfalls der Zugang zu einem Psychologen zentral. Wer die »zweiten Opfer« unterstützen will, sollte ihre fachliche Kompetenz herausstellen und damit ihr Selbstwertgefühl wiederaufbauen. Und bei einer späteren Fehleranalyse sollten die Betroffenen unbedingt beteiligt sein.

Im Zuge der Covid-19-Pandemie ist das SVS immer mehr aus seinem Schattendasein hervorgekommen. Im Bereich der Arbeitsmedizin und dem Arbeitsschutz sind dazu Handlungsempfehlungen erschienen. Diese haben das Ziel, die Resilienz von Behandelnden zu stärken sowie Hilfen im Umgang mit Second Victims aufzuzeigen.

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